Abriss und Neuerrichtung eines grenzständigen Wohngebäudes nach § 6 Abs. 12 Nr. 4 HBO
aktualisierte Fassung, Stand 2025 – verfasst von RAin Nadine Hieß
I. Einleitung
Die bauordnungsrechtliche Behandlung von grenzständigen Bestandsgebäuden gewinnt in der Praxis weiter an Bedeutung, insbesondere im Zusammenhang mit Ersatzneubauten im unbeplanten Innenbereich. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat bereits 2020 zentrale Fragen zur Reichweite des § 6 Abs. 12 Nr. 4 HBO und zur Bindungswirkung nachbarlicher Verzichtserklärungen entschieden (Hess. VGH, Beschl. v. 3.6.2020 – 3 B 2322/19). Neuere Entscheidungen der Jahre 2021 bis 2024 bestätigen nunmehr die wesentlichen Leitlinien dieser Rechtsprechung und konkretisieren ihren Anwendungsbereich.
Der folgende Beitrag stellt die Entscheidung von 2020 vor, analysiert die dogmatischen Grundlagen und zeigt auf, wie sie sich in die jüngste Rechtsprechung zur Abstandsflächenproblematik und zur Rolle des planungsrechtlichen „Einfügens“ nach § 34 BauGB einfügt.
II. Sachverhalt und prozessuale Ausgangslage
Dem Beschluss des VGH Hessen lag ein Ersatzneubau an der Grundstücksgrenze zugrunde. Die Nachbarin hatte im ursprünglichen Baugenehmigungsverfahren 2016 eine schriftliche Zustimmung zum Vorhaben erteilt. Nachdem das Bauwerk im Widerspruch zur Genehmigung zunächst vergrößert errichtet worden war und ein Baustopp erfolgte, wurde 2019 ein neuer Bauantrag gestellt, der eine geringfügige Erweiterung (ca. 2 m² Grundfläche, +70 cm Gebäudehöhe) vorsah.
Die Nachbarin wandte sich gegen die neue Genehmigung mit Drittwiderspruch und Eilrechtsschutzantrag. Das VG Frankfurt lehnte diesen ab (VG Frankfurt, Beschl. v. 26.9.2019 – 8 L 2788/19.F). Der Hessische VGH bestätigte die Entscheidung.
III. Die nachbarrechtliche Verzichtserklärung als ausschlaggebender Faktor
1. Dogmatische Einordnung
Eine nachbarrechtliche Verzichtserklärung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, die gegenüber der Bauaufsichtsbehörde abgegeben wird. Sie führt zum Entfallen nachbarlicher Abwehrrechte, soweit sie sich auf ein bestimmtes Bauvorhaben bezieht. Dies gilt auch im Eilrechtsschutz (st. Rspr. des Hess. VGH; vgl. auch Hess. VGH, Beschl. v. 24.11.2016 – 3 B 2515/16).
2. Erstreckung auf nachfolgende Genehmigungsverfahren
Bemerkenswert ist, dass der VGH die 2016 erteilte Zustimmung auf das 2019 erneut gestellte Baugesuch erstreckt. Maßgeblich sind:
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Wortlaut und objektivierter Erklärungsinhalt,
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Zweck der Zustimmung,
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Interessenlage der Beteiligten,
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der Empfängerhorizont der Bauaufsichtsbehörde.
Der VGH attestierte dem neuen Baukörper trotz geringfügiger Erweiterungen „Gleichartigkeit“ im Sinne von § 6 Abs. 12 Nr. 4 HBO und sah keinen Anlass, die Bindungswirkung entfallen zu lassen.
Das Ergebnis ist konsequent: Ohne Abwehrrecht fehlt es an der Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO), die Klage war daher unzulässig.
3. Bestätigung durch spätere Rechtsprechung
Die Jahre 2021–2024 bringen hierzu folgende Konkretisierungen:
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VG Frankfurt, Beschl. v. 14.1.2021 – 8 L 66/21.F
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VG Frankfurt, Beschl. v. 29.11.2021 – 8 L 2530/21.F
Beide Entscheidungen bekräftigen den Grundsatz, dass Nachbarn ihre Abwehrrechte durch ausdrückliche oder konkludente Zustimmung verlieren können, selbst wenn im weiteren Verfahren bauordnungsrechtliche Abweichungsfragen im Raum stehen.
IV. Abstandsflächen und Ersatzneubau nach § 6 Abs. 12 Nr. 4 HBO
1. Normzweck und verfassungsrechtlicher Rahmen
§ 6 Abs. 12 Nr. 4 HBO ermöglicht die Neuerrichtung eines gleichartigen Gebäudes an gleicher Stelle, auch wenn es – wie das Altgebäude – die heutigen Abstandsflächen unterschreitet. Die Regelung dient der Mobilisierung innerörtlicher Grundstücke, ohne den Bestandsschutz zu unterlaufen.
Der VGH erkennt eine unechte Rückwirkung, hält diese aber für verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie sei als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) gerechtfertigt.
2. Der Maßstab der „Gleichartigkeit“
Der Beschluss 3 B 2322/19 ist die zentrale Leitentscheidung zur Auslegung. Danach können geringfügige bauliche Modifikationen zulässig bleiben:
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geringe Erweiterungen der Grundfläche (hier: 2 m²),
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moderater Höhenzuwachs (hier: 70 cm),
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Wahrung des „baulichen Grundcharakters“.
3. Bestätigung durch HE-HBO 2024
Die Handlungsempfehlungen zur HBO (Stand 1.4.2024) übernehmen diese Kriterien ausdrücklich – ein deutliches Indiz dafür, dass die VGH-Auslegung inzwischen verwaltungsintern „kodifiziert“ ist. Die Verwaltungspraxis folgt somit stabil der Linie von 2020.
V. Neuere Rechtsprechung zum Verhältnis von § 6 HBO und § 34 BauGB
1. Zur Rücktrittsfunktion des Abstandsflächenrechts
Der Hessische VGH hat 2024 seine Rechtsprechung dahingehend geschärft, dass bei planungsrechtlich zulässigem Einfügen nach § 34 Abs. 1 BauGB das Abstandsflächenrecht weitgehend zurücktritt:
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Hess. VGH, Beschl. v. 17.11.2021 – 3 B 233/21
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Hess. VGH, Beschl. v. 17.1.2024 – 5 B 998/23
Letzterer stellt ausdrücklich klar, dass bei Vorliegen eines Einfügens die Absätze 1–10 des § 6 HBO keine Anwendung finden. Dies stärkt die planungsrechtliche Steuerungswirkung des § 34 BauGB deutlich.
2. Fortentwicklung bei grenzständiger Bestandsbebauung
Weitere bedeutsame Entscheidung:
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Hess. VGH, Urt. v. 28.11.2024 – 5 A 2511/20
Sie betrifft die Frage, ob Dachgauben bei grenzständigen Gebäuden abstandsflächenrechtlich privilegiert sind. Der VGH bejahte dies unter Hinweis auf § 6 Abs. 6 S. 3 HBO. Damit wird klargestellt, dass grenzständige Bestandsgebäude auch bei Aufstockungen und Gauben nicht zwingend neue Abstandsflächen auslösen.
Damit wird die 2020er Rechtsprechung zu Ersatzneubauten in ein kohärentes Gesamtgefüge neu gefasster Abstandsflächenprivilegierungen eingeordnet.
VI. Bewertung
Die aktuelle Rechtsprechung bestätigt den Ansatz des VGH aus dem Jahr 2020 in allen wesentlichen Punkten:
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Nachbarrechtliche Verzichtserklärungen sind ein wirksames Instrument zur Stabilisierung von Grenzbauten. Ihre Bindungswirkung reicht – je nach Auslegung – auch in nachfolgende Verfahren hinein, wenn das Bauvorhaben nur geringfügig modifiziert wird.
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§ 6 Abs. 12 Nr. 4 HBO bleibt das zentrale bauordnungsrechtliche Instrument zur Erhaltung und Wiedererrichtung grenzständiger innerörtlicher Gebäude. Die Kriterien des VGH bilden heute die anerkannte Verwaltungspraxis.
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Die neuere Rechtsprechung des Hessischen VGH aus 2021–2024 stärkt die Vorrangstellung planungsrechtlicher Erwägungen (§ 34 BauGB) gegenüber bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen, insbesondere im unbeplanten Innenbereich.
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Die Entscheidungen sind in sich konsistent und führen zu einer deutlichen Rechtsklarheit für die Praxis: Ersatzneubauten grenzständiger Gebäude sind – bei Wahrung des Grundcharakters – in Hessen rechtssicher genehmigungsfähig.
VII. Schluss
Für die Praxis bedeutet dies: Bei der Neuerrichtung grenzständiger Gebäude sollte frühzeitig geprüft werden,
(1) ob eine Nachbarzustimmung vorliegt oder eingeholt werden kann,
(2) ob das Vorhaben gleichartig im Sinne des § 6 Abs. 12 Nr. 4 HBO ist, und
(3) ob planungsrechtlich ein Einfügen nach § 34 BauGB vorliegt, das die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen weitgehend überlagern kann.
Die Rechtsprechung des Hessischen VGH bietet hierfür inzwischen einen klaren, verlässlichen Rahmen.